Sechster Bericht aus San Pedro

Ich hoffe sehr, dass ihr frohen Mutes, starker Gesundheit und guter Vorsaetze ins neue Jahr gestartet seid?!

Ich hatte eine sehr schoene Zeit in Riobamba. Habe vor allem mal wieder (nach 6 Jahren…) viel Zeit mit meiner Gastfamilie verbringen koennen (was vor allem, heisst, im Laden mit anzupacken und dabei viel zu plaudern und zu lachen…).
Des weiteren habe ich mein Knie liebevoll versorgt, so dass es sich mittlerweile gut rehabilitiert hat (weiss nicht, ob ich zuvor von meinem Knie berichtet habe…?! Hatte/habe seit fast 4 Monaten eine Entzuendung im Miniskus gehabt und war etwas bewegungseingeschraenkt und in Sorge, was die Fahrradtour anbelangt…). Habe auch eine kleine Reise nach Cuenca, einer sehr schoenen kolonialen Stadt in den Anden Ecuadors unternommen und die groesste, in Ecuador noch vorhandene Inkaruine („Ingapirca“) erkundet.

Sylvester
Mein Sylvester war nicht sonderlich spektakulaer. Ich war mit Wilo allein zu Haus und wir haben zusammen auf den Laden aufgepasst. Wir sind dann gemeinsam nach Ladenschluss durch die Strassen Riobambas geschlendert und haben uns die „Año Viejos“ angeschaut. „Año Viejos“ sind menschgrosse Puppen, die meistens aus gefuellten, alten Kleidungsstuecken und einem Kleister-Zeitungspapier-Gesicht bestehen. Diese Figuren, die jeweils eine Person verkoerpern, werden dann am 31.12. vor den Haeusern aufgestellt und um 24.00 verbrannt, – was etwas makaber wirkt… – vor allem, wenn man sich dabei vergegenwaertigt, dass symbolisch meist gerade ein Familienmitglied, oder ein „Freund“ verbrannt wird… Neben diesen „Año Viejos“ laufen noch unendlich viele „Viudas“ durch die Strassen, – was recht amuesant ist. Die Viudas (Witwen) sind Maenner in zum Teil sehr aufreizender Frauenkleidung, die durch die Strassen stolzieren, prostituieren und performancieren und dabei die vorbeifahrenden Autos und Passanten um Geld bitten… Inwiefern diese Viudas mit Sylvester in Verbindung gebracht werden koennen, konnte mir allerdings leider keiner beantworten… Hat mich erst ein wenig ueberrascht, dass sich da anscheinend keiner Gedanken zu macht… aber dann ist mir aufgefallen, dass ich auch nicht erklaeren koennte, warum wir im Norden Deutschlands „Rummelpott“ laufen…

Weihnachtskonzert
Der Abstand zu San Pedro tat mir gut, – denn nach dem Weihnachtskonzert, was ich ja in der Kommune in San Pedro vorbereitet hatte, brauchte ich doch einmal ein wenig Abstand zu diesem Fleckchen Erde, welches ich ja sehr lieb gewonnen habe. …-aber zuviel ist eben auch nicht immer gut…
Ich war waehrend der Konzertvorbereitung ueber Wochen in meiner „Freizeit“ mit nichts anderem mehr beschaeftigt, als mit Theaterproben, Dekobastel, die auftretenden Personen abklappern, um sie zu erinnern, dass das Konzert auch wirklich stattfindet (…!), Kekse backen (zum Verkauf), Tombolageschenke herstellen, Handouts erstellen, etc…. All dies hat Spass gemacht und war eine wichtige Zeit fuer mich; – auch um mehr mit dem Dorf in Kontakt zu kommen… doch vielleicht war es auch ein wenig zu viel… bzw. zu „unausgewogen“ (s.u.).
Das Konzert wurde sehr gut besucht. Leider vor allem von den juengeren Dorfmenschen… Es ging wohl ein Geruecht in der Kinderwelt in San Pedro herum, dass die Gringas ein Fest geben, bei dem Spielzeuge fuer die Kinder verteilt werden… und so sind sie natuerlich in Scharen, in einer voellig falschen Erwartungshaltung erschienen… und waren leider dabei so unruhig, dass man die Theatergruppe und auch die uebrigen auftretenden Personen (z.B. eine Floetengruppe, einen Jungen, der ein Gedicht aufgesagt hat, ein Junge, der Keyboard gespielt hat, 3 Gringas, die 3-stimmige deutsche Weihnachtslieder gesungen haben, etc.) kaum oder gar nicht verstehen konnte…
Nun gut. Dennoch ist das Konzert nach meinem Empfinden gut angekommen, – und ich war auch ein kleines bisschen stolz auf mich… Wirklich schade fand ich es nur, dass es keinem eingefallen ist, sich fuer das Konzert zu bedanken – oder auch nur einen (negativen oder positiven) Komentar zu dem Geschehen abzugeben. Dies ist zwar etwas, was in diesem Dorf anscheinend leider ueblich ist (die Worte „gracias“ und „de nada“ sind so gut wie nicht vorhanden!), – aber dennoch fuehlte ich mich, bzw. meine Anstrengungen zu wenig gewertschaetzt.
Ja, das fehlende Danke und das im Gegensatz sehr ausgepraegt „Hand-auf-halten“ ist mir sehr oft aufgefallen…und beschaeftigt/aergert mich schon fast seit meiner Ankunft. Daher werde ich ein wenig naeher auf dieses Thema eingehen…

Geben und Nehmen
Das Thema „Geben und Nehmen“ hat mich hier in San Pedro immer wieder beschaeftigt. Von Anfang an ist mir aufgefallen, dass die Menschen hier eine andere Beziehung zu diesem Thema haben, als ich es (aus Deutschland oder Riobamba) gewohnt bin. Oberflaechlich betrachtet sind die Menschen (es ist schwer, nicht zu generalisieren, denn es sind nicht alle Menschen!) sehr grosszuegig, herzlich und offen. Zum Beispiel ist es voellig unueblich etwas zu essen oder zu trinken und dies nicht mit seinem Gegenueber zu teilen. Gewoehnungsbeduerftigt war dies fuer mich vor allem bei Festen, wo man dann mit quasi jedem Anwesendem aus dem selben Becher trinkt (sobald sich Alkohol darin befindet…). Auch beim Trampen habe ich nie Schwierigkeiten, – und das nicht weil ich eine Gringa bin. Es ist einfach ueblich seinen Mitmenschen kleine Gefallen zu tun und sich umeinander zu kuemmern. Als europaeische Auslaenderin werde ich naterulich auch besonders mit Zuwendung und Gastfreundschaft bedacht. Sobald ich um einen Gefallen bitte oder etwas ausleihen moechte, erfahre ich in der Regel jegliche Aufmerksamkeit und Hilfestellungen.
Doch nach und nach stelle ich immer mehr fest, dass die Menschen neben dieser „oberflaechlichen“ Grosszuegigkeit im Miteinander eine starke Anspruchshaltung haben und wenig dazu bereit sind „wirklich“ etwas zu geben… also etwas zu geben, was ihnen auch etwas (innerlich oder aeusserlich) kostet. D.h. etwas zu geben, von dem sie sich keinen Vorteil versprechen. Es ist schwer ueber dieses Thema zu schreiben. Ich merke, dass es sehr komplex ist und das ihr mich leicht missverstehen koennt… Denn es ist auch nicht so, dass „die Menschen“ wirklich berechnend sind und sich etwa genau ueberlegen wuerden, welche Vor- und Nachteile ihr Handeln jeweils mit sich bringen wuerde. Nach meiner Interpretation laeuft dies automatisiert und intuitiv ab, und ist wohl in ihrer „Dorfkultur“ (oder Regionalkultur) verankert und wird so von Generation zu Generation weitergegeben.
Wirklich geschickt sind die Menschen darin, ihre Hand scharmant auszustrecken und bereit zu sein, zu bekommen. Die Praesidenten der Kommune werden z.B. vor allem danach bewertet, wieviel Unterstuetzung sie fuer das Dorf von der Regierung abstauben konnten. Und hier bin ich immer wieder ueberrascht, wie viele Hilfsprojekte, Materialien und Gelder so in das Dorf fliessen… und das natuerlich nicht nur in San Pedro. Beispielsweise wurden gerade mal wieder (!) 45 Haeuser kostenlos fuer einige (besonders beduerftige) Bewohner San Pedros errichtet. In der Vorweihnachtszeit gab es alle Nase lang Veranstaltungen, in denen verschiedene reiche Menschen und Institutionen Kinderspielzeuge, Kekse, Bomboms, etc. an die Kinder San Pedros verteilt haben. Es kam mir manchmal vor, wie ein Staffellauf unter den Kindern, – mit dem Ziel, bei moeglichst vielen von diesen Ausschenkungen moeglichst viel zu ergattern und dann mit seiner Eroberung angeben zu koennen…

Gedanken zum Thema „Weiterentwicklung“ und „Entwicklungszusammenarbeit“
All dies sind keine Ueberlegungen, die ich mir allein ausgedacht habe, sondern Feststellungen, die sich aus verschiedenen Gespraechen mit verschiedenen Menschen (ausserhalb des Dorfes) bei mir ergeben haben. Ich habe aus diesen Gespraechen und Beobachtungen glaube ich viel ueber das Thema Entwicklungszusammenarbeit gelernt… und vor allem ueber die Probleme und Schwierigkeiten in diesem Bereich. Gerade, weil das „Weiterkommen“ und der Wunsch etwas in seinem Leben, oder in seiner (Dorf)gemeinschaft zu veraendern so stark mit der (gemeinsamen)Mentalitaet und der Sozialisierung verwurzelt ist, habe ich den Eindruck bekommen, dass es unheilich komplex ist, eine nachhaltige Entwicklungshilfe anzubieten. Es fehlt den Mesnchen ja nicht in erster Linie an Nahrung oder Wohnraum, oder Ressourcen, sondern an der Einstellung zu ihrem Leben.
Ein Freund von mir aus San Pedro (der von ausserhalb kommt), hat einmal in diesem Zusammenhang zu mir gesagt, dass den Menschen hier, ihre Armut gefaellt („a la gente aqui, le gusta la pobreza“). Ich war zunaechst recht schockiert ueber diesen Satz und wollte es nicht glauben. Doch nach und nach habe ich festgestellt, dass der Satz so falsch nicht ist. Die Armut, in der die Menschen hier leben ist (fuer die meisten Menschen) keine Armut, die ihnen wehtut. Sie leiden nicht an Hunger und an Durst. Sie haben ein Dach ueber dem Kopf, einen starken Familienzusammenhalt, Kleidung, in den meisten Faelen Strom und Wasser, eine einigermassen gesicherte medizinische Versorgung und ein relativ gesichertes ein Einkommen (fuer eine etwa 6-Koepfige Familie ca. 200 Dollar… 150 Euro). Natuerlich beklagen sie sich gern ueber ihre Lebensumstaende (denn daran, dass es ihnen ja so schlecht geht, sind ja vor allem die anderen Schuld…), aber es scheint ihnen nicht so schlecht zu gehen, als das sie sich (im allgemeinen!) darum bemuehen wuerden, etwas zu veraendern (z.B. indem sie ihre Kinder regelmaessig in die Schule schicken, oder zu Cerleco bringen, etc.). Dies hat natuerlich etwas mit ihrer Lebensperspektive und den antizipierten Moegichkeiten, etwas veraendern zu koennen zu tun…und bestimmt auch mit ihrer (kulturellen) Vergangenheit… Ich fuer meinen Teil bin zumindest recht ratlos, wenn mich jemand nach meiner Meinung fragen wuerde, was ich denken wuerde, wie sich ein Dorf wie San Pedro „weiterentwickeln“ koennte. Das einzige, was mir einfaellt ist, bei der juengsten Generation anzusetzen (Qualitaet der Schule, Freizeitangebote, etc.), – denn die aelteren Menschen sind erstaunlich in ihrem (seit Generationen fast immer gleichen) Lebensrhzthmus und ihren „costumbres“ (!) gefangen…

Sehr schoen war es in diesem Zusammenhang auch, mit Amelie (der Gruenerin der Einrichtung), aehnliche Erfahrungen und Ueberlegungen austauschen zu koennen. Diese Gespraeche haben mir auch dabei geholfen, besser zu verstehen, warum einige Dinge, die ich hier im Dorf bewirken wollte, nicht geklappt haben. Vor Weihnachten war ich, auch wegen der doch recht kurzen Zeit hier, etwas „hyper-aktiv“, weil ich ja sooo viel machen und hinterlassen wollte. Mittlerweile kann ich besser akzeptieren, dass ich hier nur kleine Impulse geben konnte/kann und meine Moeglichkeiten eben begrenzt sind….. denn ob etwas klappt oder nicht klappt, haengt ja nicht nur von mir ab…

Endspurt und Schwerpunktveraenderung
Meine Einstellung zu San Pedro hat sich auch deswegen veraendert, weil ich nur noch wenige Wochen hier sein werde. Jetzt fehlen nur noch 11 Tage, bis Ben in Quito ankommt! Und nur noch knapp ein Monat, bis wir uns gemeinsam auf die Raeder schwingen. Bin dementsprechend innerlich (Gedankenspielereinen…) und auesserlich (joggen, Radfahren) viel mehr mit unserer Reise beschaeftigt als zuvor.
Dennoch geniesse ich die Arbeit mit den Kindern nach wie vor sehr. Besonders mit meinen Freizeitgruppen habe ich viel Freude. Mit der einen Gruppe mache ich gerade Luftballon, Zeitungspapier – Kleister – Masken und mit der anderen Gruppe toepfer ich zur Zeit. Und das schoenste ist, dass es doch eine Hoffnung gibt, dass die Gruppen auch nach meiner Abfahrt „ueberleben“ werden… denn es hat sich ein sehr sympathischer und engagierter Helfer gefunden! Das waere wirklich grosssartig…

Gummistiefel
Leider muss ich wieder ueber dieses leidige Thema schreiben… ich bin wieder fast ausschliesslich mit meinen Gummistiefeln unterwegs… Hier an der Kueste hat die „Winterzeit“ eingesetzt. Winterzeit hat allerdings nichts mit Kaelte und Schnee zu tun, sondern im Gegenteil, mit Hitze und Regen. Meist regnet es morgens, was dazu fuehrt, dass der ganze (Erd)Boden aufweicht und sich das Dorf in wenigen Minuten in ein Schlammbad verwandelt. Gluecklicherweise regnet es aber nicht sonderlich lange und danach kommt dann oft die Sonne wieder zum Vorschein, so dass am nachmittag die Gumistiefel wieder gegen normales Schuhwerk eingetauscht werden koennen. Aergerlich ist nur, dass mein Haus undicht ist, und ich regelmaessig von kleinen Ueberschwemmungen heimgesucht werde. Und noch aergerlicher ist, dass wenn das Dorf unter Schlamm steht (und man sich nur mit Gummistiefeln fortbewegen kann), auch keine Kinder in Cerleco erscheinen. Ja, es ist ist wirklcih ein bisschen unglaublich und fuer mich bislang noch nicht verstaendlich… anstatt das sich die Menschen Gumistiefel zulegen (sooo teuer sind diese Geraetschaften nicht…), verzichten sie einfach sehr oft darauf, das Haus zu verlassen und ihren Verpflichtungen ausserhalb des Hauses nachzukommen.

In der Hoffnung, dass es Euch allen gut geht, sende ich Euch etwas ecuadorianische Sonne fuer die winterlichen Seelen!

Eure Gynna

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2 Kommentare

  1. Philine

    Alles Gute für die letzten Wochen bzw. jetzt schon letzte Wochen.

    Wir haben uns riesig gefreut, dass Ben es noch im Abreise-Stress geschafft hat, bei uns langs zu kommen und Kolja zu treffen. Bei Gelegenheit schicken wir dann mal das Foto von Ben und Kolja, wie sie auf der Matratze liegen, der Kleine auf dem Bauch vom Großen und miteinander turteln.

    Fingernägelschneiden gehört hier aber nicht zur Patenaufgabe!

  2. Hallo liebe Gynna

    ich habe letzten Samstag auf der Konfirmation von Linda Schröder
    Deine Eltern wieder getroffen. Da werden immer Sehnsüchte nach dem schönen Schleswig- Holstein wach.

    Dein Vater berichtete mir von Deinem Globetrotter- Dasein.
    Wenn man Deine Reisen studiert, frage ich mich, ob ich eigentlich
    (richtig) lebe.

    Ich hoffe, ich sehe Dich bald mal wieder. Du hast bestimmt viel zu berichten und darauf würde ich mich freuen.

    Viel Gesundheit und Freude wünscht Dir

    Holler aus Mönchengladbach/ 14.April 2008